Vielstimmiger Erinnerungsraum
Das Oral History-Archiv zur Colonia Dignidad ist ein vielstimmiger Erinnerungsraum. Es ermöglicht verschiedene Blickwinkel, erfordert aber kritisches und sensibles Zuhören.
Das Oral History-Archiv versammelt sehr unterschiedliche Zeitzeugen-Interviews zur Geschichte der Colonia Dignidad. Die Erinnerungsberichte ehemaliger Sektenmitglieder, politischer Gefangener, Angehöriger Verschwundener, von Paul Schäfer missbrauchter chilenischer Jungen sowie externer Expert/innen oder Aktivist/innen wurden in einem Interviewarchiv zusammengetragen. Das bietet die Chance, ganz verschiedene Perspektiven gegeneinander zu stellen und aufeinander zu beziehen. Vollkommen unterschiedliche Erfahrungen und Deutungen können dadurch verglichen werden.
Damit werden die Erlebnisse aber nicht gleichgesetzt. Die Erfahrungen von ehemaligen politischen Gefangenen im Folterlager Colonia Dignidad unterscheiden sich fundamental von denen der ehemaligen Sektenmitglieder. Die in der Colonia Dignidad missbrauchten Kinder leben mit anderen Erinnerungen als ehemalige Mitglieder der Führungsgruppe um Paul Schäfer.
Verschiedene Gruppen
Im Archiv sind verschiedene Gruppen gekennzeichnet. Angehörige von Verschwundenen sind kenntlich gemacht als z. B. „Schwester von…“. Experten werden spezifiziert über die Rolle, die sie für die Aufarbeitung der Geschichte spielten (z.B. forensischer Archäologe oder Aktivist). In den Kurzbiografien der ehemaligen Sektenangehörigen werden gerichtliche Verurteilungen kenntlich gemacht und mit weiteren Quellen verlinkt. Darüber hinaus können Erfahrungsgruppen nach Geschlecht und Geburtsjahr gefiltert werden. Jenseits aller Zuordnungen verlangt jedes Interview ein kritisches und sensibles Anhören. Das Archiv ermöglicht die Kontrastierung einzelner Aussagen mit anderen Berichten in einem vielstimmigen Erinnerungsraum.
Menschliches Erinnern und Erzählen
Das menschliche Erinnern ist ein komplexes und veränderliches System, das immer auch überformt wird von den gegenwärtigen Bedingungen, in denen es stattfindet. Jede Erzählung ist außerdem geprägt von den Zielen, die sich die erzählende Person gesetzt hat. Dabei ist es keine Seltenheit, dass lebensgeschichtliche Erzählungen nicht deckungsgleich sind mit Fakten, die anderen Quellen entnommen werden können. Diese Prozesse machen das lebensgeschichtliche Erinnern und Erzählen so reichhaltig und offen für Interpretationen aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Im Archiv helfen dabei Inhaltsverzeichnisse und Kurzbiografien sowie ein Register mit Begriffserklärungen.
Fehlende Interviews
In der Sammlung gibt es auch Leerstellen. Die Verschwundenen, die zu Tode gefolterten und Erschossenen, deren Angehörige im Archiv zu Wort kommen, können selbst kein Zeugnis ablegen von dem, was ihnen widerfahren ist. Auf Seiten der damaligen Sekte gibt es ebenfalls unaufgeklärte Todesfälle. Andere Zeitzeugen sind aufgrund ihres Alters oder von Krankheit nicht mehr in der Lage, ein Interview zu geben. Andere Personen entschieden sich bewusst gegen ein Interview, da sie befürchteten die leidlich verheilten Wunden aufbrechen zu lassen. Wieder andere mochten nicht vor der Kamera sprechen. Noch sind nicht alle Interviews erschlossen und übersetzt; das Archiv befindet sich noch im Aufbau.
Trotz Bemühungen konnte kein Gleichgewicht zwischen männlichen und weiblichen Stimmen erreicht werden. Besonders in der Gruppe der ehemaligen Sektenmitglieder entschieden sich weniger Frauen dafür, ein Interview zu geben. Die alltägliche und allumfassende Geringschätzung, ja Verachtung von weiblichen Mitgliedern der Colonia Dignidad wirkt hier vermutlich nach.
Der Führungskreis der Colonia Dignidad
Anders verhält es sich bei Personen aus dem Führungskreis der Colonia Dignidad: Alle Mitglieder dieser Gruppe wurden durch das Projekt gezielt gebeten, ein Interview zu geben. Die meisten antworteten allerdings überhaupt nicht, alle anderen ablehnend. Es muss daher weiter davon ausgegangen werden, dass sie ihr Wissen nicht mit der Öffentlichkeit teilen wollen. Für die Angehörigen der politischen Gefangenen, aber auch für viele jüngere Bewohner/innen ist dies nach Jahrzehnten des Schweigens und Lügens enttäuschend.
Die von manchen Seiten geäußerten Hoffnungen auf juristisch verwertbare Aussagen in den Interviews erfüllen sich daher vermutlich nicht. Wichtige Zeugen wollten nicht sprechen; andere sagten nicht alles. Oral Historians sind keine Ermittler; Zeitzeugen-Interviews der Wissenschaft sind grundsätzlich lebensgeschichtlich und freiwillig – und damit anders gelagert als die in tatbezogenen Vernehmungen gemachten Zeugenaussagen vor Gericht. Dennoch könnte eine Strafverfolgung auch Erkenntnisse aus diesen Interviews gewinnen – wenn es denn überhaupt Ermittlungen gäbe.
Grauzonen
In dem vielstimmigen Archiv treten die einzelnen Interviewten nach einer Geschichte voller Entrechtung als geschichtsmächtige Individuen in Erscheinung. Die ehemaligen Sektenmitglieder sind keine homogene Gruppe. Zwar waren sie alle den internen Mechanismen einer totalitären Psychosekte ausgeliefert, haben sich aber an dem jeweiligen Platz, an den sie gestellt wurden, höchst unterschiedlich verhalten. Es gab kollektive ausgeführte Strafen in den Altersgruppen und die Pflicht, andere bei vermeintlichem Fehlverhalten anzuzeigen. Es gab aber auch immer einen gewissen Spielraum, sich so oder so zu entscheiden. Auch in den Interviews gibt es die Möglichkeit, eigenes Versagen zu verschweigen oder anzusprechen. Es anzusprechen, erfordert viel Mut.
Schutz der Persönlichkeitsrechte
Aufgrund der höchst persönlichen und sensiblen Erzählungen im Oral History-Archiv brauchen diese einen geschützten Rahmen. Wer auf das Interview-Archiv zugreifen will, muss sich registrieren, ein berechtigtes Interesse nachweisen und die Nutzungsbedingungen akzeptieren. Die Interviewten sind frei, ihre Geschichte so darzustellen wie es ihnen richtig erscheint. Daher liegt die Verantwortung für die Aussagen in jedem Interview bei den einzelnen Interviewten und in keinem Fall bei der Freien Universität Berlin.