Colonia Dignidad - Geschichte
Die Colonia Dignidad („Kolonie Würde“) war eine Sektensiedlung von Auslandsdeutschen im südlichen Chile, in der zwischen 1961 und 2005 schwere Verbrechen verübt wurden. Die Sektenmitglieder und ihre Kinder wurden isoliert, ausgebeutet und sexuell missbraucht. Während der Diktatur (1973-1990) unter Augusto Pinochet wurden hier Oppositionelle gefoltert und ermordet. Bis heute prägt die nicht aufgearbeitete Geschichte der Colonia Dignidad die deutsch-chilenischen Beziehungen. Vor allem aber belasten die Erfahrungen von Gewalt und Missbrauch die Lebenswege und die Erinnerungen der Betroffenen und ihrer Angehörigen.
Die Private Sociale Mission in der Bundesrepublik Deutschland
Die Geschichte der Colonia Dignidad beginnt in den 1950er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland. In der Nachkriegszeit und auch noch in den 1950er Jahren hatten evangelikale Prediger großen Zulauf. Der spätere Führer der Colonia Dignidad, Paul Schäfer, war einer dieser Prediger. Ein erheblicher Teil seiner Anhänger stammte aus Osteuropa und hatte bereits dort zu evangelikalen Gruppen gehört. Der Krieg, die Niederlage des Nationalsozialismus und die Vertreibung machten diese Gruppe besonders anfällig für die urchristliche Utopie, die charismatische Führung und für den religiös verpackten Anti-Kommunismus. Schäfer hatte nach dem 2. WK begonnen mit Jugendlichen zu arbeiten. Er wurde in kurzer Zeit wiederholt entlassen, weil er sexuelle Gewalt gegen die schutzbefohlenen Jungen verübte, ohne dass aber formell Anzeige gegen ihn erstattet wurde. Aufgrund seiner ständigen Entlassungen führte er ein Wanderleben, in dessen Rahmen er, begleitet von einem kleinen Kreis von Unterstützern, kleine Gemeinschaften von Anhängern in der BRD und Österreich aufbaute. Ende der 1950er Jahre baute die Gruppe in der Nähe von Siegburg, in Heide ein Haus auf. Bereits hier gab es Bestrebungen, sich von der Umwelt abzuschotten, ebenso wie Berichte über Misshandlungen.
Übersiedlung nach Chile und Aufbau der Colonia Dignidad
Schäfer floh 1960 aus der BRD, weil aufmerksame Eltern schließlich den Missbrauch an ihren Söhnen angezeigt hatten und Schäfer per Haftbefehl gesucht wurde. Auf Empfehlung des chilenischen Botschafters in der BRD entschied die Sektenführung nach Chile überzusiedeln. 1961 wurde die Sekte, die offiziell “Sociedad Benefactora y Educacional ‘Dignidad’” hieß, auf dem Landgut “El Lavadero” in den Voranden, 40 km östlich der Kleinstadt Parral gegründet.
Die Sekte begann schnell durch Gefälligkeiten ein lokales Unterstützernetz aufzubauen. Das bald eröffnete Krankenhaus diente der Sekte als wohltätige Fassade. Daneben nutzte die Colonia gezielt die Germanophilie in Teilen der chilenischen Gesellschaft aus, etwa indem die Priorität angeblich deutscher Tugenden wie Sauberkeit und Ordnung betont wurde.
Im Innern wurde dauerhaft ein extremer Druck auf die Sektenmitglieder ausgeübt. Es herrschte der Zwang zur Arbeit ab dem Kindesalter, Gewissens- und Gedankenkontrolle nach den Vorgaben der psychoreligiösen Führerfigur Paul Schäfer, der täglich sexuelle Gewalt, besonders gegen Kinder und Jugendliche ausübte. In Gebetskreisen und Beichten mussten nicht zur eigene intimste Gedanken und vermeintliches Fehlverhalten, sondern auch Beobachtungen bezüglich anderer Colonos preisgegeben werden. Darüber hinaus waren physische Gewalt in Form brutaler Prügel, die teilweise auch gemeinschaftlich in den Altersgruppen durchgeführt wurden an der Tagesordnung. Auch Essen- und Trinkentzug, Ruhigstellung und Kontrolle durch Medikamente und Elektroschocks, Zwangssterilisierungen und die Folter von Kindern im sogenannten Neukra um 1969/1970 gehörten zu den repressiven Praktiken der Sekte. Ein Teil dieser Taten wurde dabei schon vor der Übersiedlung nach Chile in der Bundesrepublik, im Jugendheim der Sekte in Heide bei Siegburg verübt, durch die Abgeschlossenheit der Colonia und die Wechselwirkungen mit der politischen Situation in Chile steigerten sich die Maßnahmen auch im Innern.
Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst der Diktatur
Zwischen 1966 und 1968 geriet die Colonia Dignidad in den Fokus der chilenischen Öffentlichkeit. Einem jungen Sektenangehörigen gelang die Flucht, gleichzeitig gab es Konflikte mit chilenischen Autoritäten. Obwohl bei einer Untersuchung des chilenischen Parlaments Unregelmäßigkeiten festgestellt wurden, entkam die Colonia der Verhängung von Sanktionen. 1970 wurde in Chile die linksgerichtete Unidad Popular‑Regierung unter Präsident Salvador Allende ins Amt gewählt. Die Colonia Dignidad unterstützte in den folgenden Jahren rechte terroristische Gruppen (Patria y Libertad) und vernetzte sich mit Großgrundbesitzern aus der Region, die eine Enteignung ihres Landbesitzes im Zuge der Landreform der Unidad Popular befürchteten. Am 11. September 1973 wurde die Regierung Allende durch einen Putsch des Militärs unter General Augusto Pinochet gestürzt. Die USA hatte den Putsch durch Destabilisierungsmaßnahmen mit vorbereitet. Allende kam dabei ums Leben. Unter der Diktatur kooperierte die Colonia Dignidad eng mit der Geheimpolizei DINA etwa bei der Folter politischer Gefangener im sogenannten Kartoffelkeller. Eine bis heute unbekannten Anzahl von verschwunden politischen Gefangene wurden auf dem Gelände erschossen, in Massengräbern vergraben und 1978 wieder ausgegraben und verbrannt. Die Colonia Dignidad war außerdem Teil des lokalen Repressionsapparats und erstellte ein Archiv über Gegner und Unterstützer.
Transición in Chile - Kontinuitäten, Ermittlungen und Verhaftung Schäfers
Nach der Rückkehr zur Demokratie in Chile 1990 verlor die Colonia Dignidad den Status der gemeinnützigen Organisation, wogegen eine Gruppe von Politikern der Rechten Einspruch einlegte. Die Colonia Dignidad erhielt Unterstützung durch Anwohner in der Vigilia Permanente (Ständige Mahnwache). Auch Kinder, die an den Aktivitäten in der Colonia Dignidad teilnahmen oder dort dem sogenannten Intensivinternat angehörten, wurden von Paul Schäfer missbraucht und oder vergewaltigt. Aufgrund der Anzeige der Mutter eines betroffenen Jungen gab es Ermittlungen und ab 1996 Durchsuchungen durch die Polizei.
Schäfer floh nach Argentinien, wo er 2005 durch Recherchen von Journalisten und Rechtsanwälten aufgespürt und verhaftet werden konnte. Er wurde nach Chile ausgewiesen, verurteilt und starb im Gefängnis. Daneben gab es Prozesse gegen Angehörige der Führungsgruppe. Einige Angeklagten entzogen sich der chilenischen Justiz und setzten sich nach Deutschland ab, von wo sie aufgrund ihrer deutschen Staatsangehörigkeit nicht ausgeliefert werden.
Durch die Festnahme Schäfers, die Prozesse gegen die Mitglieder der alten Führung und eine entschiedenere Intervention durch den chilenischen Staat und die Deutsche Botschaft in Santiago konnte die Colonia Dignidad, die sich selbst ab Mitte der 1980er Jahre „Villa Baviera“ (bayrisches Dorf) nannte, geöffnet werden. Sie versucht ihr wirtschaftliches Überleben heute u.a. durch einen Tourismus- und Restaurantbetrieb zu sichern. Das Krankenhaus wurde in den 2000ern als Gesundheitsposten und Altersheim wiedereröffnet.
Andererseits bestehen auch Elemente der Abschottung fort. Die spirituelle Leerstelle, die die Flucht und Verhaftung Schäfers hinterließen, wurde in Teilen durch andere evangelikale Prediger gefüllt. Die Tendenz die Verbrechen der Vergangenheit unter einer religiös begründeten Versöhnung für abgeschlossen zu erklären und nicht weiter zu thematisieren, wurde bei einigen der Bewohner dadurch gestärkt. Zahlreiche Colonos haben die Siedlung verlassen und leben heute in Deutschland, Österreich oder anderen Orten in Chile.